Die Weisse Wüste (5. Oktober 2010)
Ein Sonnenaufgang der Sonderklasse steht als Ouverture auf dem heutigen Programm. Wir machen uns hinter den markanten Felsformationen bereit, stellen unsere Stative auf und warten. Die blaue Stunde beginnt heute um 05:37 und der (theoretische) Sonnenaufgang exakt um 6:00 Uhr – wegen der felsig erhöhten Kulisse etwas später. Zum Glück zeigt der Himmel einige markante Wolkenbilder, was die Sache noch interessanter macht. Es wird nicht zu viel versprochen – der Tag beginnt viel versprechend. Die Strahlen der aufgehenden Sonne werden in den Wolken gebrochen und reflektiert. Die ganze Gegend wird in zauberhaftes, ja mystisches Licht getaucht. Spontan kommt mir Mozart in den Sinn: «Die Strahlen der Sonne vertreiben die Nacht» (Zauberflöte, Schlussszene).
Die blaue Stunde
Als blaue Stunde bezeichnet man die Zeit zwischen Beginn der Dämmerung (Morgen) und Sonnenaufgang sowie zwischen Sonnenuntergang und Ende der Dämmerung (Nacht). In der Fotografie wird die Blaue Stunde für Dämmerungs- und Nachtaufnahmen genutzt. Gegenüber Aufnahmen bei absoluter Dunkelheit ist dadurch auch die Umgebung leicht erhellt und somit besser sichtbar, die Kontraste zwischen Hell und Dunkel sind abgemildert und die Bilder weisen eine interessante Stimmung auf. Verursacht wird die blaue Strahlung des Himmels durch die Ozonschicht in 20 – 30 km Höhe. Hier in Ägypten dauert die blaue Stunde ca. 20 – 25 Minuten. Man muss also schon rechtzeitig vor Ort sein, sonst verpasst man das Ganze. Für die Planung helfen Tabellen mit den exakten Werten für einen bestimmten Ort zu einem bestimmten Tag. Hier die Werte für unsere Reise:
Quelle: https://jekophoto.de/
Magic Spring
Nach dem Sonnenaufgang und nachdem wir uns von diesem aussergewöhnlichen Erlebnis erholt haben, wandern wir durch die interessanten Felsformationen und Sanddünen. Die Vielfalt der Motive ist unerschöpflich und abwechslungsreich – der Finger ist ständig am Auslöser. Jetzt am Morgen sind die Schatten noch lang und unterstützen die Strukturen der Fels- und Sandformationen ideal. Sogar für ein kleines Selbstportrait bleibt Zeit.
Anschiessend fahren wir weiter zur sogenannten Magic Spring (Magische Quelle). In der Tat sprudelt hier inmitten der Sandwüste und nur durch ein paar Palmen gekennzeichnet, frisches und klares Wasser in relativ grosser Menge aus dem trockenen Wüstenboden – ohne jegliche menschliche oder technische Hilfe. Das Wasser wurde in drei Stufenbecken gefasst und dient Reisenden und Kamelen. Eine willkommene Gelegenheit für das Auffüllen der Wasserflaschen (oberstes Becken) und für eine Haarwäsche (unterstes Becken). Im mittleren Becken hocken vier junge Schweizerinnen und nehmen – nach echter und dummer Touristenmanier – ein Bad (keine Fata Morgana!).
Vor vielen Jahrtausenden war die Sahara ein blühender, fruchtbarer Landstrich mit Seen und Tümpeln. Heute legen noch unterirdische Wasservorkommen Zeugnis von dieser Vergangenheit ab. Das Wasser tief unter der Sahara ist bis zu einer Million Jahre alt. Es fliesst mit einer Geschwindigkeit von einem bis zwei Metern pro Jahr im sogenannten nubischen Aquifersystem nordwärts – einem Leitungssystem, dass sich unter der Wüste von Ägypten, Libyen, Tschad und dem Sudan erstreckt.
Im Zentrum der Weissen Wüste
Man muss diese Gegend schon aussergewöhnlich gut kennen, um auch um diese Zeit, wenn die Sonne hoch am Himmel steht, einen Schattenplatz für die Mittagsrast zu finden. Dionys und seine Beduinen haben da gar keine Mühe. Das Licht um die Mittagszeit eignet sich nicht zum Fotografieren, ausserdem wird es zu heiss (> 40° C).
Nach einem feinen Mittagessen und einer ausgiebigen Siesta im Schatten machen wir uns wieder auf den Weg, um ins Zentrum der Weissen Wüste vorzustossen. Weltweit einzigartige, vom Wind zu skurrilen Formen geschliffene Kreideformationen überraschen uns.
Wäre da nicht der Sand und die Hitze, man könnte glauben, es seien Schneeverwehungen in den Alpen. Die Seekreide ist schneeweiss und weich wie die bekannten Schulkreiden.
Immer wieder suchen wir neue Standplätze und Kamerapositionen, probieren verschiedene Brennweiten und versuchen die länger werdenden Schatten des kommenden Abend wirkungsvoll ins Bild einzubeziehen. Es ist traumhaft schön und zusammen mit der absoluten Stille irgendwie unwirklich … wie in einer anderen Welt.
Nächtlicher Besuch
Bei Sonnenuntergang pirschen wir durch einen eigentlichen Skulpturenpark. Bei den Kalkstein-Monolithen handelt es sich um sedimentiertes und kalzifiziertes Plankton aus dem Ende der Kreidezeit von vor 80 Mio. Jahren, als das heutige Mittelmeer noch die Wüste bedeckte, die später durch Wind und Wetter und die extremen Temperaturunterschiede erodiert sind und ihre individuelle Form erhalten haben. Zu erkennen sind Pilze, Fisch- und Affenköpfe, Menschenköpfe, ein Rhinozeros, auch Ausserirdisches – der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt.
Zum Nachtessen gibt es heute erstmals Fleisch: gegrilltes Huhn, welches Ahmed auf einem einfachen Rost auf offenem Feuer gekonnt zubereitet.
Vermutlich ist es der köstliche Duft, welcher sich kilometerweise über die Wüste ausbreitet, welcher die heutigen Gäste anlockt. Eine Familie von Sandfüchsen kommt zu Besuch. Männchen, Weibchen mit zwei Jungtieren. Offensichtlich wissen sie, dass es hier etwas zu fressen gibt. Schnell die Kameras und Blitzgeräte montiert und die Knipserei geht los. Unsere Rufe sowie das Blitzen und Klicken scheint sie nicht im geringsten zu stören, sie holen die Knochen ganz vorsichtig, auch aus der Hand. Einzig ruckartige Bewegungen verleiten sie zum (vorübergehenden) Rückzug. Auf bereit gestelltes Wasser stürzen sie sich mit Hochgenuss, denn das ist etwas ungewohntes; Wüstenfüchse trinken normalerweise nie, sie nehmen alle Flüssigkeit über die Nahrung auf.